SITTENLEHRE 

 

Der Leitfaden der gültigen Tugenden in der Alten Sitte ist das Hâvamâl aus der Edda. Das Hâvamâl wird auch "Des Hohen Lied" genannt, da ihm nachgesagt wird, von Allvater Wodan persönlich zu stammen. Heutzutage sind meist die sogenannten "9 edlen Tugenden" als Verhaltensregeln für den Germanenglauben zu finden und weit verbreitet, so wie es bis vor kurzem auch an dieser Stelle der Fall war. Dabei handelt es sich jedoch nicht um historische Regeln unserer germanischen Ahnen, sondern um eine Neuschöpfung aus der Hand von Stephen Flowers, aka Edred Thorsson, ebenso wie das in Asatrukreisen beliebte Hammerritual.

Sowohl vom Hammerritual, als auch von den 9 edlen Tugenden habe ich inzwischen Abstand genommen, da sie nicht auf historische Quellen der Germanen zurückgehen und zudem der Autor den Ruf genießt stark mit der schwarzmagischen Szene verbunden zu sein. Ein Rückgriff auf die Edda ist in meinen Augen der bessere und authentischere Weg. Zunächst seien daher die Strophen 1-110 des Hâvamâl angeführt, die historische Sitten- und Verhaltensregeln darstellen. Kurze Erläuterungen und Kommentare zu einzelnen diesen Tugenden werde ich im Laufe der Zeit ergänzen.

 

Hâvamâl - Des Hohen Lied

 1 Der Ausgänge halber bevor du eingehst
  Stelle dich sicher,
  Denn ungewiß ist, wo Widersacher
  Im Hause halten.

 2 Heil dem Geber! Der Gast ist gekommen:
  Wo soll er sitzen?
  Atemlos ist, der unterwegs
  Sein Geschäft besorgen soll.

 3 Wärme wünscht der vom Wege kommt
  Mit erkaltetem Knie;
  Mit Kost und Kleidern erquicke den Wandrer,
  Der über Felsen fuhr.

 4 Wasser bedarf, der Bewirtung sucht,
  Ein Handtuch und holde Nötigung.
  Mit guter Begegnung erlangt man vom Gaste
  Wort und Wiedervergeltung.

 5 Witz bedarf man auf weiter Reise;
  Daheim hat man Nachsicht.
  Zum Augengespött wird der Unwissende,
  Der bei Sinnigen sitzt.

 6 Doch steife sich niemand auf seinen Verstand,
  Acht hab er immer.
  Wer klug und wortkarg zum Wirte kommt
  Schadet sich selten:
  Denn festern Freund als kluge Vorsicht
  Mag der Mann nicht haben.

 7 Vorsichtiger Mann, der zum Mahle kommt,
  Schweigt lauschend still.
  Mit Ohren horcht er, mit Augen späht er
  Und forscht zuvor verständig.

 8 Selig ist, der sich erwirbt
  Lob und guten Leumund.
  Unser Eigentum ist doch ungewiß
  In des andern Brust.

 9 Selig ist, wer selbst sich mag
  Im Leben löblich raten,
  Denn übler Rat wird oft dem Mann
  Aus des andern Brust.

 10 Nicht beßre Bürde bringt man auf Reisen
  Als Wissen und Weisheit.
  So frommt das Gold in der Fremde nicht,
  In der Not ist nichts so nütze.

 11 Nicht üblern Begleiter gibt es auf Reisen
  Als Betrunkenheit ist,
  Und nicht so gut als mancher glaubt
  Ist Ael den Erdensöhnen,
  Denn um so minder je mehr man trinkt
  Hat man seiner Sinne Macht.

 12 Der Vergessenheit Reiher überrauscht Gelage
  Und stiehlt die Besinnung.
  Des Vogels Gefieder befing auch mich
  In Gunnlöds Haus und Gehege.

 13 Trunken ward ich und übertrunken
  In des schlauen Fialars Felsen.
  Trunk mag taugen, wenn man ungetrübt
  Sich den Sinn bewahrt.

 14 Schweigsam und vorsichtig sei des Fürsten Sohn
  Und kühn im Kampf.
  Heiter und wohlgemut erweise sich jeder
  Bis z.um Todestag.

 15 Der unwerte Mann meint ewig zu leben,
  Wenn er vor Gefechten flieht.
  Das Alter gönnt ihm doch endlich nicht Frieden.
  Obwohl der Speer ihn spart.

 16 Der Tölpel glotzt, wenn er zum Gastmahl kommt, Murmelnd sitzt er und mault.
  Hat er sein Teil getrunken hernach,
  So sieht man welchen Sinns er ist.

 17 Der weiß allein, der weit gereist ist,
  Und vieles hat erfahren,
  Welches Witzes jeglicher waltet,
  Wofern ihm selbst der Sinn nicht fehlt.

 18 Lange zum Becher nur, doch leer ihn mit Maß,
  Sprich gut oder schweig.
  Niemand wird es ein Laster nennen,
  Wenn du früh zur Ruhe fährst.

 19 Der gierige Schlemmer, vergißt er der Tischzucht,
  Schlingt sich schwere Krankheit an;
  Oft wirkt Verspottung, wenn er zu Weisen kommt,
  Törichtem Mann sein Magen.

 20 Selbst Herden wissen, wann zur Heimkehr Zeit ist
  Und gehn vom Grase willig;
  Der Unkluge kennt allein nicht
  Seines Magens Maß.

 21 Der Armselige, Übelgesinnte
  Hohnlacht über alles
  Und weiß doch selbst nicht was er wissen sollte,
  Daß er nicht fehlerfrei ist.

 22 Unweiser Mann durchwacht die Nächte
  Und sorgt um alle Sachen;
  Matt nur ist er, wenn der Morgen kommt,
  Der Jammer wahrt wie er war.

 23 Ein unkluger Mann meint sich alle hold,
  Die ihn lieblich anlachen.
  Er versieht es sich nicht, wenn sie Schlimmes von ihm reden
  So er zu Klügern kommt.

 24 Ein unkluger Mann meint'sich alle hold,
  Die ihm kein Widerwort geben;
  Kommt er vor Gericht, so erkennt er bald,
  Daß er wenig Anwälte hat.

 25 Ein unkluger Mann meint, alles zu können,
  Wenn er sich einmal zu wahren wußte.
  Doch wenig weiß er was er antworten soll,
  Wenn er mit Schwerem versucht wird.

 26 Ein unkluger Mann, der zu andern kommt,
  Schweigt am besten still.
  Niemand bemerkt, daß er nichts versteht,
  So lang er zu sprechen scheut.
  Nur freilich weiß wer wenig weiß
  Auch das nicht, wann er schweigen soll.

 27 Weise dünkt sich schon wer zu fragen weiß
  Und zu sagen versteht;
  Doch Unwissenheit mag kein Mensch verbergen,
  Der mit Leuten leben muß.

 28 Der schwatzt zuviel, der nimmer geschweigt
  Eitel unnützer Worte.
  Die zappelnde Zunge, die kein Zaum verhält,
  Ergellt sich selten Gutes.

 29 Mach nicht zum Spott der Augen den Mann,
  Der vertrauend Schutz will suchen.
  Klug dünkt sich leicht, der von keinem befragt wird
  Und mit heiler Haut daheim sitzt.

 30 Klug dünkt sich gern, wer Gast den Gast
  Verhöhnend, Heil in der Flucht sucht.
  Oft merkt zu spät, der beim Mahle Hohn sprach,
  Wie grämlichen Feind er ergrimmte.

 31 Zu oft geschiehts, daß sonst nicht Verfeindete
  Sich als Tischgesellen schrauben.
  Dieses Aufziehn wird ewig währen:
  Der Gast grollt dem Gaste.

 32 Bei Zeiten nehme den Imbiß zu sich,
  Der nicht zu gutem Freunde fährt.
  Sonst sitzt er und schnappt und will verschmachten
  Und hat zum Reden nicht Ruhe.

 33 Ein Umweg ist's zum untreuen Freunde,
  Wohnt er gleich am Wege;
  Zum trauten Freunde führt ein Richtsteig
  Wie weit der Weg sich wende.

 34 Zu gehen schickt sich, nicht zu gasten stets
  An derselben Statt.
  Der Liebe wird leid, der lange weilt
  In des andern Haus.

 35 Eigen Haus, ob eng, geht vor,
  Daheim bist du Herr,
  Zwei Ziegen nur und dazu ein Strohdach
  Ist besser als Betteln.

 36 Eigen Haus, ob eng, geht vor,
  Daheim bist du Herr.
  Das Herz blutet jedem, der erbitten muß
  Sein Mahl alle Mittag.

 37 Von seinen Waffen weiche niemand
  Einen Schritt im freien Feld:
  Niemand weiß unterwegs, wie bald
  Er seines Speers bedarf.

 38 Nie fand ich so milden und kostfreien Mann,
  Der nicht gerne Gab empfing,
  Mit seinem Gute so freigebig keinen,
  Dem Lohn wär leid gewesen.

 39 Des Vermögens, das der Mann erwarb,
  Soll er sich selbst nicht Abbruch tun:
  Oft spart man dem Leiden was man dem Lieben bestimmt;
  Viel fügt sich schlimmer als man denkt.

 40 Freunde sollen mit Waffen und Gewändern sich erfreun,
  Den schönsten, die sie besitzen:
  Gab und Gegengabe begründet Freundschaft,
  Wenn sonst nichts entgegen steht.

 41 Der Freund soll dem Freunde Freundschaft bewähren
  Und Gabe gelten mit Gabe.
  Hohn mit Hohn soll der Held erwidern,
  Und Losheit mit Lüge.

 42 Der Freund soll dem Freunde Freundschaft bewähren,
  Ihm selbst und seinen Freunden.
  Aber des Feindes Freunde soll niemand
  Sich gewogen erweisen.

 43 Weißt du den Freund, dem du wohl vertraust
  Und erhoffst du Holdes von ihm,
  So tausche Gesinnung und Geschenke mit ihm,
  Und suche manchmal sein Haus heim.

 44 Weißt du den Mann, dem du wenig vertraust
  Und erhoffst doch Holdes von ihm,
  Sei fromm in Worten und falsch im Denken
  Und zahle Losheit mit Lüge.

 45 Weißt du dir wen, dem du wenig vertraust,
  Weil dich sein Sinn verdächtig dünkt,
  Den magst du anlachen, und an dich halten:
  Die Vergeltung gleiche der Gabe.

 46 Jung war ich einst, da ging ich einsam
  Verlaßne Wege wandern.
  Doch fühlt ich mich reich, wenn ich andere fand:
  Der Mann ist des Mannes Lust.

 47 Der milde, mutige Mann ist am glücklichsten,
  Den selten Sorge beschleicht;
  Doch der Verzagte zittert vor allem
  Und kargt verkümmernd mit Gaben.

 48 Mein Gewand gab ich im Walde
  Moosmännern zweien.
  Bekleidet dauchten sie Kämpen sich gleich,
  Während Hohn den Nackten neckt.

 49 Der Dornbusch dorrt, der im Dorfe steht,
  Ihm bleibt nicht Blatt noch Borke.
  So geht es dem Mann, den niemand mag:
  Was soll er länger leben?

 50 Heißer brennt als Feuer der Bösen
  Freundschaft fünf Tage lang;
  Doch sicher am sechsten ist sie erstickt
  Und alle Lieb erloschen.

 51 Die Gabe muß nicht immer groß sein:
  Oft erwirbt man mit wenigem Lob.
  Ein halbes Brot, eine Neig im Becher
  Gewann mir wohl den Gesellen.

 52 Wie Körner im Sand klein an Verstand
  Ist kleiner Seelen Sinn.
  Ungleich ist der Menschen Einsicht,
  Zwei Hälften hat die Welt.

 53 Der Mann muß mäßig weise sein,
  Doch nicht allzuweise.
  Das schönste Leben ist dem beschieden,
  Der recht weiß, was er weiß.

 54 Der Mann muß mäßig weise sein,
  Doch nicht allzuweise.
  Des Weisen Herz erheitert sich selten
  Wenn er zu weise wird.

 55 Der Mann muß mäßig weise sein,
  Doch nicht allzuweise.
  Sein Schicksal kenne keiner voraus,
  So bleibt der Sinn ihm sorgenfrei.

 56 Brand entbrennt an Brand, bis er zu Ende brennt,
  Flamme belebt sich an Flamme.
  Der Mann wird durch den Mann der Rede mächtig
  Im Verborgnen bleibt er blöde.

 57 Früh aufstehen soll, wer den andern sinnt
  Um Haupt und Habe zu bringen:
  Dem schlummernden Wolf glückt selten ein Fang,
  Noch schlafendem Mann ein Sieg.

 58 Früh aufstehen soll, wer wenig Arbeiter hat,
  Und schaun nach seinem Werke.
  Manches versäumt, wer den Morgen verschläft:
  Dem Raschen gehört der Reichtum halb.

 59 Dürrer Scheite und deckender Schindeln
  Weiß der Mann das Maß,
  Und all des Holzes, womit er ausreicht
  Während der Jahreswende.

 60 Rein und gesättigt reit zur Versammlung
  Um schönes Kleid unbekümmert.
  Der Schuh und der Hosen schäme sich niemand,
  Noch des Hengstes, hat er nicht guten.

 61 Zu sagen und zu fragen verstehe jeder,
  Der nicht dumm will dünken.
  Nur einem vertrau er, nicht auch dem andern,
  Wissens dreie, so weiß es die Welt.

 62 Verlangend lechzt, eh er landen mag
  Der Aar auf der ewigen See.
  So geht es dem Mann in der Menge des Volks,
  Der keinen Anwalt antrifft.

 63 Der Macht muß der Mann, wenn er klug ist,
  Sich mit Bedacht bedienen,
  Denn bald wird er finden, wenn er sich Feinde macht,
  Daß dem Starken ein Stärkerer lebt.

 64 Umsichtig und verschwiegen sei ein jeder
  Und im Zutraun zaghaft.
  Worte, die andern anvertraut wurden,
  Büßt man oft bitter.

 65 An manchen Ort kam ich allzufrüh;
  Allzuspät an andern.
  Bald war getrunken das Bier, bald zu frisch;
  Unlieber kommt immer zur Unzeit.

 66 Hier und dort hätte mir Labung gewinkt,
  Wenn ich des bedurfte.
  Zwei Schinken noch hingen in des Freundes Halle,
  Wo ich einen schon geschmaust.

 67 Feuer ist das Beste dem Erdgebornen,
  Und der Sonne Schein;
  Nur sei Gesundheit ihm nicht versagt
  Und lasterlos zu leben.

 68 Ganz unglücklich ist niemand, ist er gleich nicht gesund:
  Einer hat an Söhnen Segen,
  Einer an Freunden, einer an vielem Gut,
  Einer an trefflichem Tun.

 69 Leben ist besser, auch Leben in Armut:
  Der Lebende kommt noch zur Ruh.
  Feuer sah ich des Reichen Reichtümer fressen,
  Und der Tod stand vor der Tür.

 70 Der Hinkende reite, der Handlose hüte,
  Der Taube taugt noch zur Tapferkeit.
  Blind sein ist besser als verbrannt werden:
  Der Tote nützt zu nichts mehr.

 71 Ein Sohn ist besser, ob spät geboren
  Nach des Vaters Hinfahrt.
  Gedenksteine stehn am Wege selten,
  Wenn sie der Freund dem Freund nicht setzt.

 72 Zweie gehören zusammen und doch schlägt die Zunge
  das Haupt.
  Unter jedem Gewand erwart ich eine Faust.

 73 Der Nacht freut sich wer des Vorrats gewiß ist,
  Doch herb ist die Herbstnacht.
  Fünfmal wechselt oft das Wetter am Tag:
  Wie viel mehr im Monat!

 74 Wer wenig weiß, der weiß auch nicht,
  Daß einen oft der Reichtum äfft;
  Einer ist reich, ein andrer arm:
  Den soll niemand narren.

 75 Das Vieh stirbt, die Freunde sterben,
  Endlich stirbt man selbst;
  Doch nimmer mag ihm der Nachruhm sterben,
  Welcher sich guten gewann.

 76 Das Vieh stirbt, die Freunde sterben,
  Endlich stirbt man selbst;
  Doch eines weiß ich, daß immer bleibt:
  Das Urteil über den Toten.

 77 Volle Speicher sah ich bei Fettlings Sprossen,
  Die heuer am Hungertuch nagen:
  Überfluß währt einen Augenblick,
  Dann flieht er, der falscheste Freund.

 78 Der alberne Geck, gewinnt er etwa
  Gut oder Gunst der Frauen,
  Gleich schwillt ihm der Kamm, doch die Klugheit nicht;
  Nur im Hochmut nimmt er zu.

 79 Was wirst du finden befragst du die Runen,
  Die hochheiligen,
  Welche Götter schufen, Hohepriester schrieben?
  Daß nichts besser sei als Schweigen.

 80 Den Tag lob abends, die Frau im Tode,
 Das Schwert, wenn's versucht ist,
 Die Braut nach der Hochzeit, eh es bricht, das Eis,
 Das Ael, wenn's getrunken ist.

 81 Im Sturm fällt den Baum, stich bei Fahrwind in See,
 Mit der Maid spiel im Dunkeln: manch Auge hat der Tag.
 Das Schiff ist zum Segeln, der Schild zum Decken gut,
 Die Klinge zum Hiebe, zum Küssen das Mädchen.

 82 Trink Ael am Feuer, auf Eis lauf Schrittschuh,
 Kauf mager das Roß, und rostig das Schwert,
 Zieh den Hengst daheim, den Hund im Vorwerk.

 83 Mädchenreden vertraue kein Mann,
 Noch der Weiber Worten.
 Auf geschwungnem Rad geschaffen ward ihr Herz,
 Trug in der Brust verborgen.

 84 Krachendem Bogen, knisternder Flamme,
 Schnappendem Wolf, geschwätziger Krähe,
 Grunzender Bache, wurzellosem Baum,
 Schwellender Meerflut, sprudelndem Kessel;

 85 Fliegendem Pfeil, fallender See,
 Einnächtgem Eis, geringelter Natter,
 Bettreden der Braut, brüchigem Schwert,
 Kosendem Bären und Königskinde;

 86 Siechem Kalb, gefälligem Knecht,
 Wahrsagendem Weib, auf der Walstatt Besiegtem,
 Heiterm Himmel, lachendem Herrn,
 Hinkendem Köter und Trauerkleidern;

 87 Dem Mörder deines Bruders, wie breit wär die Straße,
 Halbverbranntem Haus, windschnellem Hengst,
 (Bricht ihm ein Bein, so ist er unbrauchbar):
 Dem allen soll niemand voreilig trauen.

 88 Frühbesätem Feld trau nicht zu viel,
 Noch altklugem Kind.
 Wetter braucht die Saat und Witz das Kind:
 Das sind zwei zweiflige Dinge.

 89 Die Liebe der Frau, die falschen Sinn hegt,
 Gleicht unbeschlagnem Roß auf schlüpfrigem Eis,
 Mutwillig, zweijährig, und übel gezähmt;
 Oder steuerlosem Schiff auf stürmender Flut,
 Der Gemsjagd des Lahmen auf glatter Bergwand.

 90 Offen bekenn ich, der beide wohl kenne,
 Der Mann ist dem Weibe wandelbar;
 Wir reden am schönsten, wenn wir am schlechtesten denken
 So wird die Klügste geködert.

 91 Schmeichelnd soll reden und Geschenke bieten
 Wer des Mädchens Minne will,
 Den Liebreiz loben der leuchtenden Jungfrau:
 So fängt sie der Freier.

 92 Der Liebe verwundern soll sich kein Weiser
 An dem andern Mann.
 Oft fesselt den Klugen was den Toren nicht fängt,
 Liebreizender Leib.

 93 Unklugheit wundre keinen am andern,
 Denn viele befällt sie.
 Weise zu Tröpfen wandelt auf Erden
 Der Minne Macht.

 94 Das Gemüt weiß allein, das dem Herzen innewohnt
 Und seine Neigung verschließt,
 Daß ärger Übel den Edlen nicht quälen mag
 Als Liebesleid.

 95 Selbst erfuhr ich das, als ich im Schilfe saß
 Und meiner Holden harrte.
 Herz und Seele war mir die süße Maid;
 Gleichwohl erwarb ich sie nicht.

 96 Ich fand Billungs Maid auf ihrem Bette,
 Weiß wie die Sonne, schlafend.
 Aller Fürsten Freude fühlt ich nichtig,
 Sollt ich ihrer länger ledig leben.

 97 "Am Abend sollst du, Odin, kommen,
 Wenn du die Maid gewinnen willst.
 Nicht ziemt es sich, daß mehr als Zwei
 Von solcher Sünde wissen."

 98 Ich wandte mich weg Erwidrung hoffend,
 Ob noch der Neigung ungewiß;
 Jedoch dacht ich, ich dürft erringen
 Ihre Gunst und Liebesglück.

 99 So kehrt ich wieder: da war zum Kampf
 Strenge Schutzwehr auferweckt,
 Mit brennenden Lichtern, mit lodernden Scheitern
 Mir der Weg verwehrt zur Lust.

 100 Am folgenden Morgen fand ich mich wieder ein,
 Da schlief im Saal das Gesind;
 Ein Hündlein sah ich statt der herrlichen Maid
 An das Bett gebunden.

 101 Manche schöne Maid, wer's merken will,
 Ist dem Freier falsch gesinnt.
 Das erkannt ich klar, als ich das kluge Weib
 Verlocken wollte zu Lüsten.
 Jegliche Schmach tat die Schlaue mir an
 Und wenig ward mir des Weibes.

 102 Munter sei der Hausherr und heiter bei Gästen
 Nach geselliger Sitte,
 Besonnen und gesprächig: so schein er verständig,
 Und rate stets zum Rechten.

 103 Der wenig zu sagen weiß, wird ein Erztropf genannt,
 Es ist des Albernen Art.

 104 Den alten Riesen besucht ich, nun bin ich zurück:
 Mit Schweigen erwarb ich da wenig.
 Manch Wort sprach ich zu meinem Gewinn
 In Suttungs Saal.

 105 Gunnlöd schenkte mir auf goldnem Sessel
 Einen Trunk des teuern Mets.
 Übel vergolten hab ich gleichwohl
 Ihrem heiligen Herzen,
 Ihrer glühenden Gunst.

 106 Ratamund ließ ich den Weg mir räumen
 Und den Berg durchbohren;
 In der Mitte schritt ich zwischen Riesensteigen
 Und hielt mein Haupt der Gefahr hin.

 107 Schlauer Verwandlungen Frucht erwarb ich,
 Wenig mißlingt dem Listigen.
 Denn Odhrörir ist aufgestiegen
 Zur weitbewohnten Erde.

 108 Zweifel heg ich, ob ich heim wär gekehrt
 Aus der Riesen Reich,
 Wenn mir Gunnlöd nicht half, die herzige Maid,
 Die den Arm um mich schlang.

 109 Die Eisriesen eilten des andern Tags
 Des Hohen Rat zu hören
 In des Hohen Halle.
 Sie fragten nach Bölwerk ob er heimgefahren sei
 Oder ob er durch Suttung fiel.

 110 Den Ringeid, sagt man, hat Odin geschworen:
 Wer traut noch seiner Treue?
 Den Suttung beraubt er mit Ränken des Mets
 Und ließ sich Gunnlöd grämen.

 

 

 

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Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am: 01.12.2011